Selbsthilfe „Ich wollte neue Wege gehen“

Autor: Bianca Lorenz

Hinter dem Horizont geht‘s weiter, auch wenn man Krebs hat. Das ist die Botschaft der Selbsthilfe. © MJ Fotografie ‒ stock.adobe.com

Wie gründe ich eine Selbsthilfegruppe? Das weiß kaum eine so gut wie Evi Clus. Vor fast 30 Jahren selbst von Brustkrebs betroffen, war sie mit den üblichen Formaten in ihrem Umfeld unzufrieden. Von da an ging sie eigene Wege – mit großem Erfolg. Hier verrät sie, worauf es dabei ankommt, vor allem menschlich. 

Jede gute Idee entsteht aus einem Bedürfnis heraus, etwas zu verändern oder einem Mangel an Alternativen. So war es auch bei Evi Clus aus Sigmaringen. Die damals 44-jährige Pflegefachkraft stand mit Familie und Beruf mitten im Leben, als sie die Diagnose Brustkrebs kalt erwischte. „Damals war die Hemmschwelle für die Patientinnen noch sehr groß, die eigene Krebsdiagnose öffentlich zu machen“, berichtet die 73-Jährige von der Schwäbischen Alb. „Die Diagnose Brustkrebs und den weiteren Verlauf musste ich erst einmal selbst verarbeiten. Die Brust weg in einem Alter, wo man sich noch als Frau sieht. Das macht etwas mit einem.“

Nicht nur physisch und psychisch war der Krebs eine Belastung. Im Arbeitsumfeld erlebte sie Mobbing und Ausgrenzung der Normalität. Doch sie gab weiter beruflich und familiär alles, absolvierte sogar noch eine Fortbildung. Dann kam der Krebs zurück. Auch die zweite Brust musste entfernt werden. Evi Clus: „Weil ich es nicht kapiert habe. Ich hatte weitergemacht wie bisher.“

Selbsthilfe neu denken

Dann ging sie in die Selbsthilfe. Doch das war damals nicht mehr als ein Kaffeeklatsch mit Betroffenen, die sich gegenseitig bedauerten. „Ich wollte diese Art der Normalität nicht, sondern neue Wege einschlagen, die noch im Verborgenen waren.“ 

Es ist ihr gelungen. Mittlerweile hat sie drei Selbsthilfegruppen in ihrer Region, einen Förderkreis für psychosoziale Krebsberatung und eine Stiftung gegründet, Bücher geschrieben und das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement im Ehrenamt bekommen. Und noch immer hat sie neue Ideen, wirbt unermüdlich für Spendengelder und organisiert Patiententage mit Referent:innen aus nah und fern. Was treibt sie an? 

Zum einen die Einsicht aus dem eigenen Erleben als Betroffene heraus. Zum anderen fehlte es gerade im ländlichen Raum dringend an einem guten, kompetenten Netzwerk. „Mir ging es darum, den Leuten Mut zu machen, damit sie die Hoffnung nicht verlieren“, so Evi Clus. „Und man muss das Ehrenamt selbst leben, Nächstenliebe leben. Das ist sehr zeitintensiv. Und man kann das Vertrauen aller nur gewinnen und gehört werden, wenn man glaubhaft auftritt.“ 

Auf Augenhöhe kommunizieren

Wahrhaftigkeit, Hartnäckigkeit und eine offene Kommunikation – das sind für Evi Clus die wichtigsten Eigenschaften, wenn man in der Selbsthilfe etwas bewegen möchte. Doch das ist nicht jedem sofort gegeben. „Mit dieser Krebsdia­gnose umgehen, das müssen viele erst lernen“, so ihre Erfahrung. Viele verstummen erst einmal, ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Sie habe sich damals, als sie mit der Krebsdiagnose nach Hause kam, entschieden, offen damit umzugehen. „Und die Leute haben es verstanden. Es war keiner geschockt. Im Gegenteil. Sie haben sich sehr über diese Offenheit gefreut.“

Dazu gehört auch, den Behandelnden auf Augenhöhe zu begegnen, nachzufragen, wenn etwas nicht verstanden wurde, gerade wenn es um die Therapie und andere entscheidende Fragen geht. „Früher war eine solche Diskussion nicht möglich. Patienten wurden nicht ernst genommen“, so Evi Clus. Wenn heute so etwas passiert und jemand schlecht oder von oben herab behandelt wird, dann geht sie auf diese Leute zu, bis in die Chefetage hinein, um Änderungen anzustoßen. 

In der Frauenklinik in Tübingen, wo sie einmal wöchentlich eine Onkologie-Beratung anbietet, hat sie den Wandel der Gesprächskultur miterlebt. Evi Clus: „Das ist toll! Man muss nur den Mut haben, die Probleme anzusprechen.“ 

Aber auch die Patient:innen müssten sich mehr trauen. Die Leute hätten mit Handy und Co. verlernt, direkt miteinander zu kommunizieren. Das fängt schon bei den jungen Leuten an. Evi Clus: „Wir müssen ihnen beibringen, dass sie anderes agieren, dass sie lernen, auf Augenhöhe zu diskutieren, wenn schwerwiegende Erkrankungen im Raum stehen.“ 

Sie rät, nie unvorbereitet in diese Gespräche zu gehen, sich Notizen zu machen und jemanden mitzunehmen. „Das kann auch eine Arzthelferin sein oder jemand aus dem Freundeskreis, der etwas Einblick hat.“ Partner seien emotional oft zu sehr mitbetroffen. Wichtig sei, dass alle Fragen beantwortet werden.

Selbstverständliches nicht ausklammern

Wenn sie heute in ihre drei Gruppen schaut, kann sie sagen, sie hat viel bewegt: Da diskutieren alle, von der 38- bis zur 84-Jähren, wie selbstverständlich über ihren Krebs. „Das hätte ich mir vor 20 Jahren gewünscht“, lacht die 73-Jährige.

Doch auch die Nähe zum Tod gehört in der Krebsselbsthilfe mit zum Alltag. Von vielen Menschen habe sie sich in den letzten Jahren schon verabschieden müssen. „Deshalb habe ich auch immer wieder Kurse und Fortbildungen in der Hospizarbeit gemacht oder Vortragende zu diesem Thema eingeladen.“ Viele ihrer Referenten kommen heute auch ohne Honorar. Eng ist sie mit den meisten, ihre Meinung zählt in der Szene. Die Themen sind spannend für Männer und Frauen. „Krebs und Sexualität“ etwa. „Ich wollte nichts für nur Brustkrebspatientinnen machen, sondern die Männer mit ins Boot holen. Leicht war es nicht, aber es ist mir gelungen.“ 

Heute blickt Evi Clus zufrieden auf ihre Arbeit: „Ich habe immer noch Spaß daran. Einerseits ist es eine traurige Sache, andererseits ist es ein Weg, das Leben neu zu beleuchten und neue Ressourcen zu entdecken, die in den Menschen schlummern. Es ist wie ein Neubeginn. Großartig, was man in der Selbsthilfe alles bewegen kann!“