Pflege zu Hause Die Nähe intensiv spüren

Autor: Heiko Schwöbel

Zueinander stehen, auch in schweren Zeiten – das tut gut. (Agenturfoto) © pikselstock – stock.adobe.com

Patienten mit schweren Erkrankungen zu Hause versorgen – geht das? Heiko Schwöbel sprach mit einem Ehepaar, das ganz bewusst die letzten Schritte einer Krankengeschichte gemeinsam geht.

„Das ist die letzte Möglichkeit, meine Liebe zu zeigen!“ So begründen Betroffene oft ihre Entscheidung, die Versorgung und Pflege von Krebspatienten oder anderen Schwerkranken selbst zu Hause zu übernehmen. „Ich kenne aus meiner 25-jährigen Erfahrung keinen Fall, in dem Betroffene den Schritt bereut haben“, sagt Dr. Thomas Schlunk, Ärztlicher Leiter des Tübinger Projekts Häusliche Betreuung Schwerkranker. Allerdings schaffen Angehörige die Versorgung zu Hause meist nicht alleine. Sie brauchen vielfältige Unterstützung: Vom Krankenbett bis zum Essen auf Rädern.

Aber das Wichtigste ist die medizinische und seelische Betreuung der Patienten und Angehörigen. „Wir nehmen uns Zeit. Wir suchen sehr bewusst das intensive Gespräch mit den Kranken, den Partnern und der Familie“, betont Eberhard Frank, Krankenpfleger im Tübinger Projekt Häusliche Betreuung Schwerkranker. Dr. Schlunk ergänzt: „Wir sind von dem Gedanken geleitet, dass wir mit unserer Arbeit zuallererst das Befinden und nicht die Befunde verbessern. Um dies zu erreichen, ist unser Palliativdienst rund um die Uhr für die Familien erreichbar. Im Rahmen der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung sind immer eine Pflegefachkraft und ein Palliativmediziner rufbereit. Schmerzen und andere Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Atemnot: Die meisten Probleme können wir rasch lindern, oft mit Hilfe einer Medikamentenpumpe.“

Prioritäten setzen

Ich treffe das Ehepaar Müller im Paul-Lechler-Krankenhaus in Tübingen. Rasch erfahre ich, dass der Ehemann an weit fortgeschrittenem Gallen- und Prostatakrebs leidet. Aber die Stimmung im Krankenzimmer passt irgendwie nicht richtig zu diesem Befund. Die Ehefrau erzählt mir bestimmt, aber munter, dass von Anfang an klar war: „Ich pflege meinen Mann zu Hause. Das ist die letzte Möglichkeit, ihm meine Liebe zu zeigen!“

„Am Anfang war es schwer“, erzählt sie – und trotzdem lächelt sie dabei. „Fremde Hilfe wollte ich nicht. Aber dann ging es schon bald nicht mehr allein.“ Der Ehemann ergänzt: „Sie wollte es alleine schaffen. Aber es war noch so viel dringend und gleichzeitig zu erledigen: Der Schreibkram, das Haus, der Garten und so weiter.“

Frau Müller wollte sich auf ihren Mann als Mensch konzentrieren und alles Notwendige von ihm erfahren, sodass sie später auch alleine zurechtkommen kann. Also mussten damals Prioritäten gesetzt werden. „Wir haben gesagt, das Wichtigste zuerst“, so Herr Müller. Er erzählt mir, dass sie vor einem Jahr noch nicht wussten, dass noch so viel Zeit bleiben würde. „Inzwischen haben wir alles besprechen können, ich bin gerüstet“, ergänzt Frau Müller.

Ab in den Urlaub?

„Wir haben jetzt sogar wieder Zeit gehabt, in den Urlaub zu fahren“, erzählt Herr Müller. Ich schaue fragend Dr. Schlunk an. „Letzte Woche waren wir in den Bergen. Das war wieder sehr schön“, setzt der Patient nach. Nur Frau Müller scheint zu verstehen, was er damit meint. Ich frage dann doch nach: „Wie sind Sie denn in die Berge gekommen? Das muss doch sehr beschwerlich gewesen sein!“ Und schaue verwundert in die Runde. „Ganz einfach! Wir haben den Fernseher angemacht und ‚Melodien der Berge‘ angeschaut“, sagt er laut lachend.

„Das war wie früher!“ erklärt Frau Müller. „Wir haben uns gemeinsam in die Vergangenheit geträumt. Das sind ganz wichtige Momente für uns“, betont sie. „Schauen Sie“, sagt Herr Müller, „in solchen Momenten vergesse ich, dass ich auf der Liste ganz oben stehe. Das sind sehr schöne Momente.“

Die Krankheit führt zum intensiven Erleben

„So, Herr Schwöbel, jetzt reicht es. Sie haben genug gehört. Wir haben noch anderes zu tun“, sagt Frau Müller und setzt freundlich nach. „Schreiben Sie das alles gut auf. Die Leute sollen wissen, dass es gute Unterstützung gibt, wenn Schwerkranke zu Hause gepflegt werden.“

Aber dann hat das Ehepaar Müller doch noch ein wenig Zeit und beide erzählen mir, dass die Zeit mit dem Krebs sicherlich nicht die schönste, aber ganz sicher die intensivste Zeit in ihrem Leben ist. „Und wir haben gemeinsam das Wichtigste erledigen können“, sagt Herr Müller. „Zwischen mir und meiner Frau ist nichts offen.“

Das Tübinger Modell – überall möglich

Seit fast 25 Jahren gibt es den Palliativdienst im Tübinger Projekt. Inzwischen sind die Leistungen der Krankenkassen im Bereich der Betreuung schwerkranker Menschen zu Hause stark verbessert worden. Sie werden fast überall in Deutschland angeboten.

„Mit unserer Arbeit helfen wir, dass die letzten Schritte oft in Zufriedenheit und Ruhe gegangen werden können“, sagt Dr. Schlunk. Und Herr Müller bestätigt: „Genau, das haben wir geschafft!“ Und greift nach der Hand seiner Frau.


Dr. Thomas Schlunk, Ärztlicher Leiter des Tübinger Projekts Häusliche Betreuung Schwerkranker © Privat
Eberhard Frank, Krankenpfleger im Tübinger Projekt Häusliche Betreuung Schwerkranker © Privat