Psychoonkologie „Die Tür geht auch von außen zu!“

Autor: Heiko Schwöbel

Die Krebserkrankung wird zur Bewährungsprobe. Die Fesseln sprengen – das hilft. © iStock/monkeybusinessimages, Boonyachoat

Krebsdiagnosen stellen alles auf den Kopf. Doch was wie ein Chaos erscheint, bietet oft ungeahnte Chancen. Viele erkennen sie auf den zweiten Blick. Meist kommen sie jedoch erst nach der Therapie ganz zum Vorschein.

Melanie S. aus Münsingen erhält vor 25 Jahren, im Alter von knapp 45 Jahren, ihre erste Brustkrebsdiagnose. Der Arzt in der Klinik bemerkt dazu: „Es steht nicht gut um Sie.“ Ein Schock, den sie kaum überwinden kann. Auch ihr Mann, sonst sehr robust und ruhig, ist völlig durcheinander. Auf der Rückfahrt nach Hause herrscht fassungsloses Schweigen, das Melanie S. mit den Worten bricht: „Ich werde mich jetzt sofort von Dir trennen!“

Thomas S. ist entsetzt und fragt, was das jetzt werden solle. Sie erläutert ihm den Sachverhalt und ihre Überlegungen: „Du hast den Arzt gehört, es steht nicht gut um mich. Daher ist es besser, wir gehen jetzt sofort getrennte Wege. Dann bist Du frei und kannst ein neues Leben beginnen. Und ich kann mich ganz auf mich konzentrieren – völlig ungestört.“ Ihr erscheint das praktisch und angemessen, zumal die Kinder groß, die Schulden bezahlt sind und sie eigentlich keine Perspektive hat.

Der Neuanfang ist eine Chance

Thomas S. gewinnt nach und nach seine Fassung wieder und bestimmt, dass eine Trennung nicht infrage kommt. „Das stehen wir zusammen durch“, bestärkt er seine Frau. „Kampflos wirst Du Dich, werden wir uns nicht ergeben.“ Melanie S. nimmt den Kampf gegen den Krebs auf und gewinnt. Dabei gibt es Erfolge zu feiern, aber es müssen Rückschläge überwunden werden. Diese Erfahrungen verändern das Leben von Melanie S. gravierend – hin zum besten Leben, das es je für sie gab.

„Entscheidend waren die ersten Stunden nach der Diagnose“, betont Melanie S. „Ich habe erkannt, dass eine Trennung von meinem Mann eine Alternative für mich sein kann – ich habe verstanden, dass ich eine Türe auch von außen verschließen kann, wenn ich das will. Mit anderen Worten, ich bin frei, kann Nein sagen und kann das Richtige für mich tun.“

Warum ein „Nein!“ so wichtig sein kann

„So oder so ähnlich sind viele Geschichten von Krebspatienten verlaufen, die ich in Selbsthilfegruppen und in Gesprächen unterstützt habe“, sagt Evi Clus, Vorstand der Psychosozialen Krebsberatung Sigmaringen e.V.: „Während und nach der Therapie ist ganz wichtig, dass sich die Patienten selbst vertrauen und sich selbst in den Mittelpunkt stellen.“

Denn wer weiß, dass er eine Türe auch von außen zumachen kann, ist frei genug, um Nein zu sagen, wenn die Ansprüche anderer zu groß werden. „Manche Patienten erkennen das fast schlagartig und setzen dies auch sehr rasch und konsequent um“, weiß Evi Clus. „Andere benötigen die Hilfe von Beratern oder Psychologen, um sich besser selbst zu vertrauen und sich durchzusetzen.“ In Gesprächen, mit Übungen und mit Beispielen wird den Patienten gezeigt, warum das „Nein!“ wichtig ist und wie es im Alltag eingesetzt werden kann.

Normalität kehrt zurück

„Wir erhalten durchweg positive Rückmeldungen“, sagt Evi Clus. „Die Patienten sind viel ausgeglichener und zufriedener, wenn sie öfter Nein sagen. Sie spüren, dass sie das Steuerrad fester in der Hand halten – und den meisten kann ich es schon im ersten Moment ansehen, wenn sie wieder zu uns in die Beratung kommen.“ Und ganz verblüffend ist, dass das Umfeld die Änderungen oft gar nicht mitbekommt – es wird als normal wahrgenommen. Andere sagen auch: „Gut, dass Du jetzt Nein sagst“ oder „Ich hätte das schon viel früher gemacht.“ Wichtig dabei ist, dass die Balance stimmt und diese im Alltag Bestand hat.

„Die Balance stimmt aus meiner Sicht immer dann, wenn die Patienten den Krebs aktiv und als Bewährungsprobe annehmen können“, betont Evi Clus. „Dann haben sie genügend Raum für sich selbst, um die Auseinandersetzung anzunehmen und zu gewinnen.“

Der Wille hilft gegen den Krebs

Evi Clus ist überzeugt, ohne den Willen zu siegen, ist keine Therapie optimal. „Nur dann, wenn Patienten einen Willen entwickeln, gegen den Krebs anzugehen, können Chemotherapie, Bestrahlung und Operation die beste Wirkung entfalten und Rehabilitationen Gutes bewirken“, meint Evi Clus. „Zahlreiche Studien belegen zudem, dass aktive Patienten die Behandlungen meist besser bewältigen.“

Deshalb arbeitet sie auch nach über 20 Jahren in der Selbsthilfe immer noch mit Herz und Verstand daran, den Patienten Mut zu machen, sich mit dem Krebs aktiv und bewusst auseinanderzusetzen.

Dies ist immer mit einem Wechsel und Veränderung der Rollen in der Familie, bei Angehörigen und im Freundeskreis verbunden. Von allen wird mehr Verantwortung gefordert. Jeder muss sich besser und mehr um sich selbst kümmern. „Das hat noch niemandem geschadet, hat gute Beziehungen gestärkt oder schlechte zu einem schnelleren Ende gebracht“, resümiert Evi Clus. „Und dabei ist eines sicher: Den Patienten hat es immer geholfen.“

Evi Clus, 70 Jahre alt, lebt im Raum Sigmaringen und ist seit über 20 Jahren Krebspatientin – die Krankheit bedeutete für sie den Verlust beider Brüste. Und sie erlebte selbst, wie dürftig damals noch die psychoonkologischen Angebote auf dem Land waren. Diese Lücken zu schließen, ist ihr Antrieb: Sie will eine bessere Versorgung für Patienten gewährleisten. Dafür baute sie drei Selbsthilfegruppen auf sowie eine Stiftung für krebskranke Kinder mit ihren Familien und letztendlich, nach langem Kampf, eine psychoonkologische Krebsberatungsstelle in Sigmaringen.

Zweck der Angelo-Stiftung ist die personenbezogene finanzielle und soziale Unterstützung von Kindern und Eltern, die durch eine Krebserkrankung in eine besondere Notlage geraten sind.

Spendenkonto: Kreissparkasse Sigmaringen, IBAN DE22 6535 1050 00000260 46.

Evi Clus berät in der onkologischen Abteilung der Universitätsfrauenklinik Tübingen.


Evi Clus, Vorstand der Psychosozialen Krebsberatung Sigmaringen e.V. © Privat