Darmkrebs Die verlorene Reise: Ein Arzt als Krebspatient

Autor: Dietmar Kupisch

«Eine Krebsdiagnose erfordert Geduld!» © iStock/filadendron, gremlin

Matthias H. studierte vor über 30 Jahren Medizin im niedersächsischen Göttingen. Er blieb der Region treu und führt bis heute eine Praxis für Allgemeinmedizin. Vor zwei Jahren traf ihn die Diagnose Darmkrebs – wie bei den meisten Menschen völlig unvorbereitet. In Perspektive LEBEN berichtet er über das, was ihn in dieser Zeit bewegte.

Es ist ja noch nicht so lange her. Ich erinnere mich an alles, als sei es gerade erst passiert: Das intensivste Erlebnis meines Lebens, nach der Geburt meiner Kinder.

Intensiv war der Tag der Diagnose vor allem deshalb, weil ich mit meiner Familie mitten in den Abschlussplanungen unserer Australienreise stand. Ich hatte einen Vertretungsarzt gefunden, der bereit und zugleich in der Lage war, sechs Wochen meine Praxis am Laufen zu halten.

Und meine Kinder hatten Semesterferien. Seit Jahren träumten wir davon. Denn es sollte keine normale Urlaubsreise werden. Wir wollten den roten Kontinent erkunden – in einem riesigen Wohnmobil. Terminlich dafür alle unter einen Hut zu bekommen, war schwer.

Schnell noch mal zum Arzt

Umso größer war die Vorfreude auf das, was unmittelbar bevorstand. Doch ungefähr vier Wochen vor Reisebeginn bemerkte ich Veränderungen beim Stuhlgang. Offen gestanden waren mir schon länger Unregelmäßigkeiten aufgefallen, doch ich ignorierte sie so lange, bis ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ständig plagten mich Darmkrämpfe. Auch war mein Stuhl meist sehr weich. Meine seit einigen Wochen selbstverordnete Diät half mir nicht. Hinzu kamen nun noch Appetitlosigkeit und Schwäche.

All das kannte ich nicht. Ich fühlte mich schlecht. So ging ich dann zu Thomas, einem befreundeten Gastroenterologen. Schließlich wollte ich das, was immer es auch war, vor unserem Familien-Trip wieder loswerden.

Ich war anfangs wütend

Na ja, ich kann es kurz machen: Nach seinen Standarduntersuchungen und Tests empfahl er mir nachdrücklich eine sofortige Darmspiegelung. Er hielt sich bedeckt. Ich ahnte nichts Gutes. Am nächsten Abend lag ich auf seiner Liege und schaute mit ihm gemeinsam die Fahrt durch meinen Darm an. Bereits nach zwei Minuten entdeckte er den Tumor.

Meine erste Emotion war Wut. Ich konnte es nicht fassen, dass mir nach all den Jahren der Planung, der Vorbereitung und der großen Vorfreude unmittelbar vorher so etwas passiert. Zumal ich, einmal abgesehen von der einen oder anderen Grippe, nie krank war. Ich wusste, dass die Therapie meiner Krankheit länger dauern würde. Die Reise konnte ich vergessen! Nachdem ich mit Thomas die weiteren Schritte besprochen hatte, fuhr ich nach Hause.

Angst stieg auf

Während der Rückfahrt hatte ich Zeit, über mich nachzudenken. Mir wurde langsam klar, dass die verlorene Reise nicht das eigentliche Problem in meiner momentanen Lebenssituation darstellte. Ich hatte gerade eine Darmkrebsdiagnose erhalten. Angst verdrängte meine Wut.

Im Flur unseres Hauses begrüßte mich meine Tochter. Das hatte ich ganz vergessen: An diesem Abend wollten wir Timing und Route unserer Reise festlegen. Alle waren da. Ironie des Schicksals! Ich redete nicht lange drum herum. Meine Kinder waren erwachsen. Ich musste nichts schönen.

Jeder zeigte sich stark. Gemeinsam sprachen wir über die Krankheit und niemand trauerte der entgangenen Reise hinterher, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Meine Tochter übernahm freiwillig die Aufgabe der lästigen Stornierungen. Und alle machten mir Mut: Man habe ja schließlich nun sechs Wochen Zeit, mich bei der Therapie zu begleiten. Ich war stolz auf meine Familie.

Sprechen half

Die nachfolgenden Tage waren geprägt vom Untersuchungsstress. Trotz der Schwere der Erkrankung war ich in den großen Tumorzen­tren auch nur einer von vielen Patienten. Eine Nummer, so kam es mir vor. Aber das beruhigte mich auch.

Denn ich merkte, dass für jeden der behandelnden Kollegen meine Diagnose nichts Besonderes darstellte – absolute Routine also. Und ich hatte es mit Profis zu tun. Ich schöpfte das erst Mal wieder Zuversicht. Angst vor der anstrengenden Therapie hatte ich nicht. Ich sprach viel mit befreundeten Ärzten und natürlich mit meiner Familie, die mich rührend betreute. All das half mir ungemein: Auf der einer Seite die sachliche, informative Betrachtung, auf der anderen Seite der wichtige Balsam für die Seele.

Stark in der Therapie

Entsprechend gestärkt ging ich in die Therapie. Alles in allem dauerte sie etwa ein halbes Jahr. Dann fingen die Haare wieder zu wachsen an. Ich bin zwar nicht eitel, aber ich erinnere mich noch gut an die Erleichterung, als ich die ersten Stoppeln bemerkte. Ich kehrte langsam zurück ins Leben. Ich möchte an dieser Stelle niemandem Angst machen, aber während der Behandlungszeit und gerade unter der medikamentösen Therapie war ich körperlich sehr schwach, lag viel rum.

Das war so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich mir unter Leben vorstelle. Natürlich gab es auch während der Therapiezeit schöne Momente, sie hatten nur eine andere Qualität. Und rückbetrachtend war die körperliche Belastung gar nicht so schlimm. Die psychische schon eher, zumindest bis zur finalen Diagnose. Anschließend vertraute ich auf die Statistik: Über 85 Prozent der Patienten mit meinem Darmtumor überleben.

Auch wenn sich solche Prognosen auf die nachfolgenden fünf Jahre beziehen und ich noch nicht einmal die Hälfte der Zeit rum habe, fühle ich mich geheilt. Ich bin topfit. Genieße das Leben viel intensiver und weiß die kleinen Dinge zu schätzen. Unseren Australientrip konnten wir bisher nicht nachholen. Da müssen wir erst wieder terminlich alle unter einen Hut bringen. Aber die Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude.